Kapitel Zweiundzwanzig
1
St. Jude sah mehr aus wie eine Privatschule denn eine psychiatrische Klinik. Eine hohe, efeubewachsene Mauer erstreckte sich bis tief in den Wald. Das Verwaltungsgebäude, früher einmal das Heim des Millionärs Alvin Piercy, war ein roter Ziegelbau mit Fensternischen und gotischen Bögen. Piercy, ein strenger Katholik, starb 1916 als Junggeselle und vermachte sein Vermögen der Kirche. 1923 wurde das Haus zu einem Refugium für Priester, die Erholung brauchten. 1953 wurde ein kleines, modernes psychiatrisches Krankenhaus hinter dem Hauptgebäude errichtet. Vom Tor aus konnte Reggie Stewart das Verwaltungsgebäude durch die Lücken zwischen den schneebedeckten Zweigen der Bäume sehen, die auf dem Gelände verteilt standen. Im Herbst war der Rasen wahrscheinlich wie ein grüner Teppich, und die Zweige waren mit goldenen und roten Blättern bedeckt.
Dr. Margaret Flints Büro befand sich am Ende eines langen Flurs im ersten Stock. Vom Fenster aus sah man in den Wald. Dr. Flint war eine hagere Frau mit Pferdegesicht und schulterlangen grauen Haaren.
»Danke, dass Sie Zeit für mich haben«, begrüßte Stewart sie.
Dr. Flint antwortete mit einem offenen Lächeln, das ihre harten Züge milderte. Sie umschloss Stewarts Hand mit einem festen Griff und führte ihn dann zu einem der beiden Lehnsessel, die an einem Kaffeetisch standen.
»Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus Samantha Reardon geworden ist. Sie war schon ein ungewöhnlicher Fall. Unglücklicherweise gab es keine Nachbetreuung, nachdem sie entlassen wurde.«
»Warum das?«
»Ihr Mann hat sich nach der Scheidung geweigert zu bezahlen, und die Nachbehandlung war nicht durch die Versicherung abgedeckt. Wie dem auch sei, ich bezweifle, dass Samantha zugelassen hätte, dass ich mich in ihre Angelegenheiten mische, nachdem sie ihre Freiheit wiederhatte. Sie hat alles, was mit der Klinik in Verbindung stand, gehasst.«
»Was können Sie mir über Mrs. Reardon erzählen?«
»Aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht würde ich Ihnen normalerweise gar nichts erzählen. Aber bei Ihrem Anruf hat sich ja die Möglichkeit abgezeichnet, dass Samantha vielleicht zu einer Gefahr für andere werden könnte. Da muss unter Umständen die ärztliche Schweigepflicht hintenan stehen.«
»Sie könnte möglicherweise in eine Reihe von Morden in Portland verstrickt sein.«
»Das haben Sie erwähnt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Morden und ihrer Gefangenschaft in Hunters Point?« fragte Dr. Flint.
»Ja. Wie kommen Sie darauf?«
»Das sage ich Ihnen gleich. Geben Sie mir noch einen Moment Zeit. Zuerst muss ich den Grund dafür wissen, warum Sie die Informationen haben wollen.«
»Der Ehemann eines der Opfer, gleichzeitig war er der Vater des kleinen Mädchens, das ebenfalls ermordet wurde, hieß Peter Lake. Vor acht Jahren ging er nach Portland, um ein neues Leben zu beginnen. Nun kopiert jemand in Portland die Geschehnisse in Hunters Point. Wissen Sie, was die entführten Frauen in Hunters Point erdulden mussten?«
»Natürlich. Ich habe Samantha behandelt. Ich hatte Zugang zu allen Polizeiakten.«
»Dr. Flint, wäre Samantha Reardon in der Lage, eine andere Frau so zu foltern, wie sie gefoltert wurde, um meinen Klienten ans Messer zu liefern?«
»Eine gute Frage. Es gibt nicht viele Frauen, die Folterungen erdulden und dann andere Frauen ebenso foltern können, aber Samantha Reardon war in keiner Beziehung normal. Wir alle sind Persönlichkeiten, die sorgfältig abgestimmt sind. Unseren Charakter zu verändern ist normalerweise sehr kompliziert, wenn nicht gar unmöglich. Verwirrte Menschen haben fehlgesteuerte Persönlichkeiten. Die Zeichen, an denen man das erkennt, hängen von der jeweiligen Art der Fehlsteuerung ab.
Vor der schrecklichen Erfahrung hatte Samantha Reardon eine, wie wir es nennen, Grenzpersönlichkeit, die zwischen Neurose und Psychose angesiedelt ist. Manchmal legt eine solche Person psychotisches Verhalten an den Tag, aber im Allgemeinen wurde man sie als neurotisch einstufen. Samantha zeigte perverse sexuelle Neigungen, asoziales Verhalten wie Scheckfälschung und Ladendiebstahl, hatte Angstzustände. Ihre Beziehung zu ihrem Exmann beweist dies deutlich. Es gab Perioden von sexueller Gier, und manchmal war sie psychisch so instabil, dass es unmöglich war, vernünftig mit ihr zu reden. Dazu kam noch, dass sie extrem auf sich fixiert war. Wenn sie beim Diebstahl ertappt wurde, waren ihr die Strafen egal, sie hatte keinerlei Gewissensbisse. Sie benutzte den Sex, um ihren Mann zu etwas zu überreden oder Geschenke von ihm zu erhalten. Sie hat ihn finanziell ruiniert, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Als Samantha entführt und gefoltert wurde, kippte ihre Persönlichkeit, und sie wurde psychotisch. Wahrscheinlich befindet sie sich auch jetzt noch in diesem Zustand.
Samantha sah ihren Aufenthalt hier in St. Jude als Fortsetzung ihrer Gefangenschaft an. Ich war der einzige Arzt, zu dem sie Vertrauen fasste, wahrscheinlich weil ich die einzige Frau in der Ärzteschaft war. Samantha Reardon hasste alle Männer und misstraute ihnen. Sie war davon überzeugt, dass der Bürgermeister von Hunters Point, der Polizeichef, der Gouverneur und manchmal sogar der Präsident der Vereinigten Staaten, überhaupt alle Männer, sich verschworen hätten, um den Mann zu schützen, der sie gequält hatte.«
»Also«, warf Stewart ein, »ist es möglich, dass sie ihre Phantasien auslebt, wenn sie den Mann gefunden hat, den sie für ihre Gefangenschaft verantwortlich macht?«
»Ganz sicher. Solange sie hier war, sprach sie von nichts anderem als Rache. Sie hielt sich für einen Racheengel, der gegen die Mächte der Dunkelheit kämpft. Sie hasst ihren Entführer, aber sie ist eine Gefahr für alle Männer, denn sie sieht in ihnen nur Unterdrücker.«
»Aber die Frauen? Wie war sie in der Lage, diese Frauen zu foltern, nach dem, was sie selbst durchgemacht hat?“
»Samantha sieht alles, was sie zum Erfolg führen kann, als notwendiges Übel an, Mr. Stewart. Wenn sie einige Frauen opfern muss, um ihr Ziel zu erreichen, dann ist das in ihren Augen ein kleiner Preis für ihre Rache.«
2
Als Betsy ins Büro kam, saß Puck im Warteraum ihrer Praxis. Er schien niedergeschlagen zu sein.
»Ich weiß, du hast mich nicht erwartet, aber ich muss mit dir reden. Hast du viel zu tun?«
»Komm rein!« forderte ihn Betsy auf. Sie war immer noch böse auf ihn, weil er Kathy erzählt hatte, ihr Beruf sei der Grund für die Trennung.
»Wie geht's Kathy?« fragte Rick, während er ihr ins Büro folgte.
»Es gibt einen einfachen Weg, das herauszufinden.«
»Lass das! Ich bin unter anderem vorbeigekommen, um zu fragen, ob Kathy bei mir übernachten kann. Ich bin in eine neue Wohnung gezogen, die ein Gästezimmer hat.«
Betsy wollte nein sagen, weil sie Rick damit treffen wurde, aber sie wusste auch, wie sehr Kathy ihren Vater vermisste.
»Geht in Ordnung.«
»Danke. Ich hole sie morgen nach der Arbeit ab.«
»Worüber wolltest du noch reden?«
Rick fühlte sich offenbar nicht wohl in seiner Haut. Er senkte den Blick auf den Schreibtisch. »Ich... Betsy, das fällt mir sehr schwer. Die Teilhaberschaft, meine Arbeit...« Rick brach ab. »Mir geht es nicht sehr gut.« Er holte tief Luft. »Was ich versuche zu sagen, ist, mein Leben ist im Moment ein Chaos. Ich stehe so unter Druck, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Jetzt, da ich alleine bin, habe ich etwas Distanz gewonnen. Ich nehme an, ich versuche dir zu sagen, dass du mich nicht aufgeben sollst. Mich nicht ausschließen sollst...«
»Das habe ich nie vorgehabt. Du bist derjenige, der mich ausgeschlossen hat.“
»Als ich dich verließ, habe ich ein paar Dinge über dich gesagt, die nicht so gemeint waren.«
»Wenn du dir über deine Gefühle im klaren bist, Rick, dann sag mir Bescheid. Aber ich kann dir nicht sagen, wie ich dann fühlen werde. Du hast mich sehr verletzt.«
»Das weiß ich«, bestätigte er leise. »Hör zu, diese Fusionsverhandlungen, die ich führe, beschäftigen mich Tag und Nacht, aber ich glaube, dass in einem Monat alles unter Dach und Fach ist. Ich kann mir im Dezember ein paar Tage Urlaub nehmen, und Kathy hat Weihnachtsferien. Ich dachte, wir drei könnten zusammen irgendwohin fahren.«
Betsy stand das Herz still. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Rick stand auf. »Ich weiß, das kommt etwas überraschend. Du sollst mir auch nicht sofort eine Antwort geben. Wir haben Zeit. Versprich mir nur, darüber nachzudenken!«
»Das werde ich.«
»Gut und vielen Dank, dass Kathy mich besuchen darf.«
»Du bist ihr Vater«, meinte Betsy.
Bevor Rick noch etwas sagen konnte, öffnete Betsy die Bürotür. Nora Sloane stand neben Anns Schreibtisch.
»Haben Sie eine Minute Zeit?« fragte Nora.
»Rick wollte gerade gehen«, gab Betsy zurück.
Nora starrte Rick einen Moment an.
»Sind Sie Mr. Tanenbaum?«
»Ja.«
»Das ist Nora Sloane«, stellte Betsy sie vor. »Sie arbeitet an einem Artikel über weibliche Strafverteidiger für das Pacific West Magazin.«
»Ihre Frau hilft mir in allen Belangen.«
Rick lächelte höflich. »Ich hole Kathy um sechs ab und gehe mit ihr zum Abendessen«, meinte er zu Betsy. »Vergiss bitte nicht, ihre Schulsachen einzupacken. Nett, Sie kennengelernt zu haben, Mrs. Sloane.«
»Halt!« rief Betsy. »Du hast mir deine neue Adresse und Telefonnummer noch nicht gegeben.«
Rick nannte sie ihr und ging dann.
»Ich bin hier, um einen Termin mit Ihnen auszumachen, an dem wir über den Fall Hammermill und ihre Strategie im Fall Darius reden können«, sagte Nora Sloane.
»Ich hoffe, das bringt ihre Pläne nicht durcheinander, Nora, aber ich gebe Martins Fall ab.«
»Warum?«
»Persönliche Gründe, die ich hier nicht nennen will.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es gibt einen Konflikt, auch ethische Probleme spielen eine Rolle. Mehr kann ich darüber nicht sagen, ohne gegen die Schweigepflicht zwischen Anwalt und Mandant zu verstoßen.«
Nora rieb sich die Stirn, sie machte einen enttäuschten Eindruck.
»Es tut mir leid, wenn das den Artikel beeinflusst«, sagte Betsy. »Aber ich kann nichts dagegen tun.«
Betsy schlug ihren Terminkalender auf. »Sobald ich Martins Fall offiziell abgegeben habe, verfüge ich über viel freie Zeit. Warum treffen wir uns nicht nächsten Mittwoch zum Mittagessen?«
»Gut. Bis dann!«
Die Tür wurde geschlossen, und Betsy schaute auf die Arbeit vor ihr auf dem Schreibtisch. Es gab Fälle, die sie wegen Martin Darius nicht übernommen hatte. Betsy nahm den ersten Ordner vom Stapel, öffnete ihn aber nicht. Sie dachte an Rick. Er war verändert, nicht mehr so selbstsicher. Würde sie es akzeptieren, wenn er zu ihr zurückkommen wollte?
Der Summer erklang. Reggie Stewart rief aus Hunters Point an.
»Wie geht's?« fragte Stewart.
»Nicht so gut, Reg. Ich habe den Fall abgegeben.«
»Hat Darius dich rausgeworfen?«
»Nein, andersherum.«
»Warum?«
»Ich habe herausgefunden, dass Darius die Frauen in Hunters Point umgebracht hat.«
»Wie?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Mein Gott, Betsy, du kannst mir vertrauen.“
»Das weiß ich, aber ich bin nicht bereit, dazu etwas zu sagen, also setze mich nicht unter Druck.«
»Nun, ich bin etwas durcheinander. Es besteht die Möglichkeit, dass Darius hereingelegt wird. Samantha Reardon ist offenbar eine ziemlich seltsame Dame. Ich habe mit Simon Reardon, ihrem Exmann, gesprochen. Er ist Neurochirurg, sie war eine seiner OP-Schwestern. Er hat sich mit ihr eingelassen, und dann war er plötzlich mit ihr verheiratet und stand am Rande des Bankrotts. Sie hat Ladendiebstähle in rauen Mengen begangen, seine Kreditkarten bis zum Limit überzogen, und seine Anwälte waren stets damit beschäftigt, die Schandtaten der Frau zu vertuschen. Dann hat Darius sie entführt und gefoltert, und da ist sie wirklich verrückt geworden. Ich habe mich mit Dr. Flint getroffen, ihrer Ärztin am St. Jude. Das ist eine psychiatrische Anstalt Dorthin ist sie eingeliefert worden, nachdem sie versucht hatte, ihren Mann umzubringen.«
»Wie bitte?«
»Sie hat ihn und einen Freund, der mit ihm nach Hause kam, mit dem Messer angegriffen. Sie haben sie überwältigt, und Samantha verbrachte die nächsten paar Jahre in einer Gummizelle. Sie war davon überzeugt, dass der Mann, der sie entführt hat, noch auf freiem Fuß und sie das Opfer einer Verschwörung war.«
»Das war sie, Reg. Die Behörden haben Darius gedeckt. Ich kann dir keine Einzelheiten sagen, aber Samantha war wohl doch nicht völlig verrückt.«
»Vielleicht lag sie mit ihrer Vermutung richtig, aber sie ist auch wirklich krank. Dr. Flint meint, dass Samantha fuchsteufelswild war. Als Kind wurde sie abgelehnt; ihr Vater verschwand, als sie zwei Jahre alt war, ihre Mutter war hoffnungslose Alkoholikerin. Ihre Moral stammt von der Straßenbande, mit der sie herumgezogen ist. Sie bekam Jugendstrafen wegen Raub und Körperverletzung. Auch an einer Messerstecherei war sie beteiligt. Aber sie war clever genug, um durch die High School zu kommen, ohne sich auch nur einmal anzustrengen. Ihr IQ liegt nach einem Test bei 146, also ein ganzes Stück höher als meiner, doch ihre Schulnoten waren schlecht.
In jungen Jahren hat sie Max Felix, den Manager des Kaufhauses, in dem sie arbeitete, geheiratet. Ich habe ihn angerufen. Er erzählt in etwa das gleiche, was auch Dr. Reardon sagt. Sie muss eine tolle Nummer gewesen sein. Ihr erster Mann sagte, dass er sich gar nicht so schnell umdrehen konnte, wie sie seine Bankkonten geplündert hat und ihm Schulden aufhalste. Die Ehe hielt nur ein Jahr.
Die nächste Station war das College, dann die Schwesternschule und danach unser guter Doktor. Dr. Flint meint, dass Samantha Reardon eine gestörte Persönlichkeit ist - ein Mensch, der an der Grenze steht -, und die Belastung durch ihre Gefangenschaft und die Folterungen haben sie psychotisch gemacht. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, ihren Entführer zur Strecke zu bringen.«
Betsy hatte ein dumpfes Gefühl im Magen.
»Hast du Dr. Flint gefragt, ob Samantha Reardon in der Lage wäre, diese Frauen zu foltern, nur um Darius hereinzulegen?«
»Wie Dr. Flint meint, würde es ihr nicht die Bohne ausmachen, diese Frauen in Stücke zu schneiden, wenn sie das bei ihrem Vorhaben weiterbringt.«
»Es fällt mir schwer zu glauben, dass eine Frau anderen Frauen so etwas antut.«
»Aber es ergibt einen Sinn, Betsy. Denk mal nach: Oberhurst spricht mit Samantha und zeigt ihr ein Bild von Darius; Samantha erkennt Darius wieder und folgt Oberhurst nach Portland; sie erfährt aus der Zeitung von dem Ärger, den Darius mit dem Bauprojekt hat und überlegt sich, dass dort der richtige Ort ist, um Oberhurst, nachdem sie ihn getötet hat, zu vergraben. Danach bringt sie auch die anderen Leichen dorthin.«
»Ich weiß nicht, Reg. Es erscheint mir immer noch wahrscheinlicher, dass Darius die Frauen umgebracht hat.«
»Was soll ich jetzt machen?«
»Versuch ein Bild von ihr zu bekommen. In den Zeitungen gab es keine.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Ich werde in den Jahrbüchern des College nachsehen. Sie ist hier in Hunters Point auf die Universität gegangen. Das sollte also nicht so schwer sein.“
Als Stewart den Hörer auflegte, blieb Betsy ziemlich verwirrt am Schreibtisch sitzen. Noch vor ein paar Minuten war sie überzeugt gewesen, dass Darius die Frauen in Portland umgebracht hatte. Aber wenn Reggies Vermutung zutraf, dann hatte man Darius hereingelegt, und sie beide waren einer sehr intelligenten und gefährlichen Frau aufgesessen.
3
Randy Highsmith und Ross Barrow nahmen die Interstate 84 die Schlucht des Columbia Rivers hinunter, bis sie zu der Abzweigung des Highways kamen, die man auch die Schöne Strecke nannte. Mächtige Klippen ragten an beiden Seiten des breiten Flusses auf. Durch vereinzelte Lücken zwischen den Bäumen konnte man Wasserfalle sehen. Die Aussicht hier konnte atemberaubend sein, aber jetzt war Barrow zu sehr damit beschäftigt, durch den starken Regen hindurch überhaupt etwas zu erkennen. Die heftigen Windböen, die durch die Schlucht pfiffen, drückten den Wagen zur Seite. Barrow umklammerte das Steuerrad und hielt das Auto in der Spur, als sie abbogen.
Sie befanden sich auf dem Land. Überall waren Nationalparks und landwirtschaftliche Anbauflächen. Die Bäume boten zwar etwas Schutz vor dem Regen, doch Barrow musste sich immer noch nach vorne beugen, um die seltenen Straßenschilder zu erkennen.
»Dort«, rief Randy Highsmith, auf einen Briefkasten deutend, auf dem mit billigen, reflektierenden Ziffern die Hausnummer angebracht war. Barrow riss den Wagen herum, wobei die Hinterräder über den Randstreifen schleuderten. Das Haus, das Samuel Oberhurst gemietet hatte, befand sich angeblich vierhundert Meter diese ungepflasterte Straße hinauf. Der Angestellte der Immobilienfirma hatte es als Bungalow bezeichnet, aber es war eigentlich nur eine bessere Hütte. Außer der Abgeschiedenheit, die die Gegend bot, gab es nichts, was für das Haus sprach. Es war ein viereckiger Kasten mit spitzem Dach. Möglicherweise war es einmal rot gestrichen gewesen, aber die Witterung hatte der Farbe einen braunen Rostton gegeben. Ein verbeulter Pontiac stand in der Einfahrt. Das Gras war schon seit Wochen nicht mehr gemäht worden. Backsteine dienten als Treppe zur Eingangstür. Zwei leere Bierdosen standen neben der Treppe, und eine leere Zigarettenpackung war in einen Spalt zwischen zwei Steine geschoben.
Barrow lenkte den Wagen so nah wie möglich an die Eingangstür heran, und Highsmith sprang heraus, dabei den Kopf einziehend, als ob ihn dies vor dem Regen schützen konnte. Er klopfte an die Tür, wartete, klopfte dann erneut.
»Ich geh' mal nach hinten!« rief er Barrow zu. Der Detective stellte den Motor ab und folgte Highsmith. Die Vorhänge an den Vorderfenstern waren geschlossen. Highsmith und Barrow liefen durch das nasse Gras an der östlichen Seite des Hauses entlang. An dieser Seite gab es keine Fenster, und bei den Fenstern an der Rückfront waren die Jalousien geschlossen. Barrow spähte durch ein kleines Fenster auf der Westseite.
»Da drinnen sieht es aus wie im Schweinestall«, meinte Barrow.
»Da ist niemand zu Hause. Das ist mal sicher.«
»Was ist mit dem Wagen?«
Highsmith zuckte mit den Achseln. »Versuchen wir es mal mit der Vordertür.«
Das Wasser tropfte von Highsmiths Gesicht, er konnte kaum noch durch seine Brille sehen. Die Eingangstür war nicht verschlossen. Barrow verschaffte ihnen Zugang. Highsmith nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. Barrow machte das Licht an.
»Mein Gott!«
Highsmith setzte seine Brille auf. Ein Fernsehapparat stand auf einem niedrigen Standfuß unter dem vorderen Fenster. Gegenüber befand sich ein altes Sofa. Der Bezug war zerfetzt, und die Polsterung hing heraus. Ein kompletter Satz von männlichen Kleidungsstücken lag auf dem Sofa. Highsmith erkannte ein Jackett, Unterwasche und eine Hose. In der Ecke neben dem Fernseher befand sich eine alte, graue Kommode. Alle Schubladen waren herausgerissen, Schriftstücke waren im Raum verteilt. Highsmith wurde plötzlich von der Unordnung im Raum abgelenkt. Er sog die Luft durch die Nase ein.
»Was ist das für ein Geruch?«
Barrow antwortete nicht. Er hatte sich auf einen schweren Sessel, der umgekippt in der Mitte des Raumes lag, konzentriert. Als er um ihn herum ging, sah er die Blutflecken auf dem Sessel und dem Boden. Streifen von festem Klebeband, die dazu benutzt sein konnten, die Beine eines Mannes zu fesseln, klebten an den Sesselbeinen. Auf dem Tisch, direkt neben dem Sessel, lag ein blutverschmiertes Küchenmesser.
»Wie geht's deinem Magen?« fragte Barrow. »Dies hier ist ein Tatort, und ich möchte nicht, dass du dein Frühstück im ganzen Raum verteilst.«
»Ich war schon öfters an einem Tatort, Ross. Ich war auch an der Baugrube, wenn du dich erinnerst.«
»Ja, so war's wohl. Wirf einmal einen Blick hierher!«
Neben dem Messer stand eine Plastikschüssel. Highsmith blickte hinein und wurde bleich. In der Schüssel befanden sich drei Finger.
»Mister X«, sagte Barrow langsam.
Highsmith ging um den Sessel herum, damit er einen Blick auf die Sitzfläche werfen konnte. Sie war mit Blut getränkt. Ihm wurde übel. Außer den drei Fingern hatten Mister X auch noch die Genitalien gefehlt, und Randy wollte nicht derjenige sein, der sie fand.
»Ich weiß nicht genau, wer hier zuständig ist«, meinte Barrow, als er um den Sessel herumkam. »Ruf am besten die Staatspolizei an.«
Highsmith nickte und sah sich nach einem Telefon um.
Im vorderen Raum war keines. Nach hinten lagen noch zwei weitere Räume, einer davon war das Badezimmer. Aus Angst vor dem, was er finden würde, öffnete Highsmith nur ganz vorsichtig die andere Tür. Im Zimmer war gerade genug Platz für ein einzelnes Bett, einen Schrank und einen Nachttisch, auf dem das Telefon stand.
»He, Ross, sieh dir das an!«
Barrow kam in den Raum. Highsmith deutete auf einen Anrufbeantworter neben dem Telefon. Das aufleuchtende rote Licht zeigte an, dass sich Nachrichten auf dem Band befanden.
Highsmith sondierte einige der Mitteilungen, bevor er bei einer verweilte.
»Mr. Oberhurst, hier spricht Betsy Tanenbaum. Ich rufe nun schon zum dritten Mal an. Würden Sie mich bitte in meinem Büro zurückrufen. Die Nummer ist 555-1763. Sie sollten dringend mit mir Kontakt aufnehmen. Ich habe von Lisa Darius die Einwilligung, dass Sie mir über den Fall Auskunft geben dürfen. Rufen Sie mich bitte zu jeder Zeit an. Mein Telefonservice kann mich auch zu Hause erreichen, wenn Sie nach den Bürostunden oder am Wochenende anrufen.«
Der Anrufbeantworter gab einen Piepston von sich. Barrow und Highsmith sahen sich an.
»Oberhurst wurde von Lisa Darius angeheuert, dann wurde er gefoltert und seine Leiche auf dem Baugelände der Darius-Baugesellschaft gefunden«, zählte Barrow auf.
»Warum hat Lisa Darius ihn angeheuert?«
Barrow blickte durch die Tür auf die durchwühlte Kommode.
»Ich frage mich, ob Darius wirklich nach der Akte über sich gesucht hat.«
»Langsam, Ross. Wir wissen nicht, ob Darius das getan hat.«
»Randy, nimm einmal an, Darius hat herausgefunden, was in dieser Akte stand, und es war etwas, was ihm gefährlich werden konnte. Ich meine, wenn er das hier getan, Oberhurst gefoltert, ihm die Finger und den Schwanz abgeschnitten hat, dann doch deshalb, weil sich in der Akte etwas befinden muss, was für ihn wahres Dynamit ist. Vielleicht etwas, das beweist, dass Darius der Rosenmörder ist.«
»Was meinst du... Verdammte Scheiße! Lisa Darius. Er konnte nicht früher an sie heran, weil er, seit wir die Leichen gefunden haben, im Gefängnis war.«
Barrow griff nach dem Telefon und wählte.
4
Der Oberste Gerichtshof von Oregon hat seinen Sitz in der Landeshauptstadt Salem, fünfzig Meilen südlich von Portland. Die Fahrzeit von einer Stunde war das einzige, was Victor Ryder an seinem Beruf nicht gefiel. Nach all den Jahren, in denen er sieben Tage die Woche sechzehn Stunden am Tag in seiner Privatpraxis geschuftet hatte, war die eher ruhige Arbeit am Gericht eine wahre Erholung.
Richter Ryder war Witwer. Er wohnte in einem braunweißen Haus im Tudorstil, das von einer hohen, immergrünen Hecke abgeschirmt wurde. Das Anwesen befand sich in den Portland Hights auf den Westhills. Vom Wintergarten an der Rückseite des Hauses hatte man einen geradezu atemberaubenden Blick auf Portland und Mt. Hood.
Ryder schloss die Eingangstür auf und rief nach Lisa. Die Heizung im Haus war an, und überall brannte Licht. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. Er rief noch einmal nach Lisa, aber es kam keine Antwort. Niemand war da, als er ins Wohnzimmer trat. Nur der Fernsehapparat lief. Offenbar kamen die Stimmen, die er gehört hatte, daher. Ryder schaltete das Gerät ab.
Am Fuß der Treppe ins Obergeschoß rief Ryder erneut nach Lisa. Wenn sie ausgegangen war, warum lief dann der Fernsehapparat? Er ging den Flur entlang zur Küche. Lisa wusste, dass sich ihr Vater gewöhnlich, sobald er zu Hause war, eine Kleinigkeit zu essen nahm, also ließ sie Mitteilungen für ihn immer am Kühlschrank zurück. Die Kühlschranktür war übersät mit Rechnungen und Cartoons, die mit Magneten auf der glatten Oberfläche befestigt waren, aber Ryder fand keine Nachricht. Auf dem Küchentisch standen zwei Kaffeetassen und ein angeschnittener Kuchen auf einer Kuchenplatte.
»Muss wohl mit einer Freundin weggegangen sein«, dachte Ryder und wunderte sich über den laufenden Fernsehapparat. Er schnitt sich ein Stück Kuchen ab, biss hinein und ging dann in Lisas Zimmer. Alles befand sich da, wo es hingehörte, es gab nichts, was verdächtig schien. Trotzdem hatte Ryder ein ungutes Gefühl. Er wollte gerade in sein Zimmer gehen, um sich umzuziehen, als die Türglocke läutete. Zwei Männer drängten sich vor der Tür unter einen Schirm zusammen.
»Richter Ryder? Ich bin Randy Highsmith vom Büro des Bezirksstaatsanwalts von Multnomah County. Das ist Detective Ross Barrow von der Polizei in Portland. Ist Ihre Tochter da?“
»Handelt es sich um Martin?«
»Ja, Sir.«
»Lisa wohnt bei mir, aber im Moment ist sie nicht da.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Beim Frühstück. Warum?«
»Wir wollen ihr ein paar Fragen stellen. Wissen Sie, wo wir sie erreichen können?«
»Leider nein. Sie hat keine Nachricht zurückgelassen, und ich bin gerade erst nach Hause gekommen.«
»Könnte sie bei einer Freundin sein?« fragte Highsmith in beiläufigem Tonfall, um Ryder seine Besorgnis nicht spüren zu lassen.
»Ich weiß es wirklich nicht.« Ryder fiel der Fernsehapparat wieder ein, und er runzelte die Stirn.
»Stimmt etwas nicht, Sir?« wollte Barrow wissen und bemühte sich, seine Stimme ganz normal klingen zu lassen.
»Nein. Nichts Ernstes. Es standen zwei Kaffeetassen auf dem Küchentisch, so dass ich angenommen habe, sie hätte eine Freundin zu Besuch gehabt. Sie haben Kaffee getrunken und Kuchen gegessen, aber gleichzeitig lief im Wohnzimmer der Fernsehapparat.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Barrow.
»Der Apparat lief, als ich nach Hause kam. Ich verstehe nicht, warum sie das Gerät nicht ausschaltet, wenn sie mit einer Freundin in der Küche sitzt oder das Haus verlassen hat.«
»Kommt es häufiger vor, dass Ihre Tochter aus dem Haus geht und keine Nachricht hinterlässt?« wollte Barrow wissen.
»Sie hat ja eigentlich nicht mehr bei mir gewohnt. Erst als Martin ins Gefängnis kam, ist sie wieder bei mir eingezogen. Aber sie weiß, dass ich mir Sorgen um sie mache.«
»Gibt es etwas, was Sie uns bisher verschwiegen haben, Sir?«
Ryder zögerte. »Lisa hat große Angst, seitdem Martin wieder frei ist Sie hat davon gesprochen, den Staat zu verlassen, bis er wieder hinter Gittern ist.«
»Sie hätte Ihnen aber gesagt, wo sie hingeht?«
»Das nehme ich an.« Ryder schien sich plötzlich an etwas zu erinnern. »Martin hat Lisa an dem Abend, an dem er entlassen wurde, angerufen. Er sagte ihr, in Portland gäbe es keinen Ort, an dem sie sicher sei. Vielleicht hat er wieder angerufen, und sie ist in Panik geraten.«
»Hat er ihre Tochter bedroht?« fragte Barrow.
»Ich glaube das, aber Lisa war sich nicht sicher. Es war ein seltsames Gespräch. Ich weiß nur, was Lisa sagte und was sie mir erzählt hat.«
Highsmith gab dem Richter seine Visitenkarte. »Bitten Sie ihre Tochter, mich gleich anzurufen, wenn sie wieder auftaucht. Es ist wichtig.«
»Ganz bestimmt.«
Barrows und Highsmith gaben dem Richter die Hand und gingen.
»Das gefällt mir nicht«, meinte Barrows, sobald die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte. »Es ähnelt zu sehr den anderen Fällen. Besonders die Sache mit dem Fernseher. Sie hätte ihn ausgemacht, wenn sie mit einer Freundin weggegangen wäre.«
»Es gab keine Rose und keinen Zettel.«
»Ja, aber Darius ist nicht blöd. Wenn er sich seine Frau geschnappt hat, dann wird er das nicht an die große Glocke hängen. Er kann seine Methode geändert haben, um uns auf eine falsche Spur zu lenken. Irgendwelche Vorschläge?«
»Nicht den geringsten. Es sei denn, du bist der Meinung, wir hätten genug in der Hand, um Darius einzulochen.«
»Das haben wir nicht.«
»Dann warten wir ab und hoffen, dass Lisa Darius mit einer Freundin unterwegs ist.“